Zum Programm der Bamberger Symphoniker: Mahler - Bruckner
„Wenn Bruckners Musik beim Publikum eine Beziehung zum Transzendenten weckt, dann haben wir als Interpreten gut gearbeitet“
Oder:
„Hand aufs Herz: Mahler oder Bruckner, Herr Hrůša?“
Der Dirigent Jakub Hrůša im Gespräch über das Programm vom 2. April 2025
Als Gustav Mahler 1889 in Budapest eine Frühfassung seiner 1. Sinfonie vorstellte, war sie noch fünfsätzig – ein als trivial empfundener langsamer Satz, mit „Blumine“ betitelt, fiel bis zur Drucklegung 1909 weg. Ist das schade? Oder war es eine gute Entscheidung?
Jakub Hrůša: Für die Sinfonie war das auf keinen Fall ein Verlust, sondern eine vernünftige Entscheidung. Andererseits bin ich überzeugt, dass die Version mit „Blumine“ ein Recht auf Existenz und Aufführung hat. Und das gilt ebenso für „Blumine“ als eigenständiges Werk, wie wir das heute hier spielen.
Mahler hatte den Satz auch gar nicht für die Sinfonie komponiert, sondern es war eine Übernahme aus einer Bühnenmusik, es war Musik für eine Mondschein-Serenade. Eine so ungebrochen romantisches Trompeten-Ständchen ist ja gar nicht typisch für Mahler – oder gibt es da einen doppelten Boden?
JH: Solistische Einsätze für die Trompete sind bei Mahler allerdings geradezu typisch! Hier handelt es sich um ein Gelegenheitswerk aus seiner Jugend, darum ist es nur logisch, dass die Trompete hier nicht mit so existenziellen Tönen und Stimmungen belastet ist wie in späteren Werken des Komponisten. Aber es ist eindeutig Mahler – sofort und unverkennbar!
Hingehört – Worauf man im Programm besonders achten sollte, nach Jakub Hrůša
In Mahlers „Blumine“ würde ich mir erlauben, den Beginn des Werks hervorzuheben. Es handelt sich gewissermaßen um ein romantisches „Wiegenlied für Solotrompete“: Eine süß-schmerzliche Melodie eines seiner liebsten Instrumente, ein Klang, der ihm aus seiner Kindheit in der böhmisch-mährischen Höhe so vertraut war. Sensible Regungen der menschlichen Seele, ausgedrückt durch ein Instrument, das häufig mit Heroismus, Triumph und marschartigen Intonationen assoziiert wird. Auch später im Stück erklingen typisch „mahlerische“ Klänge: die klagende Oboe, das beruhigende und doch eindringliche Waldhorn. Doch gerade der Anfang – eine der anspruchsvollsten Passagen für Trompeter in Sinfonieorchestern – steht für mich im Vordergrund.
Hingehört - nach Jakub Hrůša
Ich möchte, dass Sie sich mit mir in den „Liedern eines fahrenden Gesellen“ auf zwei meiner Lieblingsmomente einlassen. Der erste befindet sich im dritten Lied („Ich hab’ ein glühend Messer“). Dort, wo der Sänger den dramatischsten Satz des gesamten Liedzyklus singt: „Wenn ich aus dem Traum auffahr’ und höre klingen ihr silbern Lachen, o weh! O weh!“, steigt das Orchester in einer der wirkungsvollsten kurzen Steigerungen, die ich in solchen Kontexten kenne, zu einem steilen Höhepunkt auf (der umso steiler erscheint, je starrer und „ausgeleerter“ der vorherige Abschnitt war – auf den Worten: „Wenn ich in den Himmel seh’, seh’ ich zwei blaue Augen steh’n!“). Dies ist zweifellos der größte dynamische Höhepunkt des gesamten Zyklus der vier Lieder und wirkt wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel. Es folgen nur noch die Worte: „Ich wollt’, ich läg’ auf der schwarzen Bahr’, könnt’ nimmer, nimmer die Augen aufmachen!“ An dieser Stelle läuft mir jedes Mal, ja, ausnahmslos jedes Mal, ein Schauer über den Rücken.
Der zweite Moment ist das Ende des Liedzyklus, am Schluss des vierten Liedes „Die zwei blauen Augen“, das – ähnlich wie das zweite Lied – Material mit Mahlers Erster Symphonie teilt. Nach einer langen Passage in ruhigem F-Dur, in der der Dichter beschreibt, wie ihm endlich wohl ist, als er unter der beruhigenden Krone eines Lindenbaums liegt und eine tiefe innere Ruhe und Ausgeglichenheit erreicht („Alles! Lieb’ und Leid! Und Welt und Traum! – Alles wieder gut!“), und der Zuhörer glaubt, dass nichts mehr die allmählich gewonnene Ruhe stören kann, ertönen in den letzten beiden Takten erneut die Akkorde des Trauermarsches in f-Moll in drei sanften Flöten. Dieser Bruch vom sicher geglaubten Dur in das unerbittliche Moll ist die kristalline Darstellung von Mahlers seelischer Welt, aber auch des Zeitgeistes, den Mahler repräsentierte.
Gustav Mahler als Liedkomponist: Was macht ihn so besonders? Warum berühren seine Lieder die Zuhörer*innen so intensiv? Sie wirken ja ganz einfach, fast wie Volkslieder.
JH: Sie haben es selbst richtig gesagt: Sie sind schlicht und scheuen sich doch nicht vor dem äußersten Ausdruck. Sie gehen direkt ins Herz, erschüttern den Zuhörer, und dennoch sind sie nie gekünstelt oder überkompliziert. Sie sind: rein. In ihnen spiegelt sich nicht nur Mahlers eigenes Individuum, sondern Jahrhunderte volkstümlicher Traditionen. Es ist eine Art Überarbeitung der Folklore. Auf den Zuhörer hat es denselben Einfluss wie beispielsweise die Märchen der Brüder Grimm. Man liest sie noch heute, trotz aller möglichen politischen Unkorrektheiten und Brutalitäten darin. Weil sie wie das Leben selbst und wie die Menschen selbst sind. Wobei, ich frage: Lesen Sie sie in Deutschland immer noch? Zum Beispiel wir, als tschechische Familie, lesen sie bis heute.
In den „Liedern eines fahrenden Gesellen“ gibt es keine Romanzen im Mondschein, ganz im Gegenteil: Es sind Lieder der depressiven Art. Kann man sagen, diese vier Lieder sind eine Art Schubert-„Winterreise“ im Kurzformat?
JH: So könnte man es in etwa formulieren, ja. Mahler war offensichtlich fasziniert von der Rohheit dieser Themen und wurde gewissermaßen zu einem Medium für den „Zeitgeist“, der damals herrschte. Es handelt sich um eine extrem zugespitzte Form des Schubert’schen Liedes – nicht ohne Grund gehören Schubert und Mahler zu den besten Liedkomponisten aller Zeiten.
Welches des vier Lieder finden Sie persönlich am stärksten, und warum?
JH: Bitte verlangen Sie von mir nicht, hier eine Auswahl zu treffen! Alle vier sind Meisterwerke, und Mahler hat sie deshalb in den Zyklus aufgenommen, weil eine ohne die andere nicht die volle Bedeutung hätte. In der Schwermut des ersten, der Schlichtheit des zweiten, der atemberaubenden Tragik des dritten, der resignierten Ruhe und Offenheit des vierten … und das sind nur einige Attribute, die mir beim Gedanken an diesen Zyklus einfallen. Jedes Lied ist wie eines seiner Kinder – und würden Sie einen Familienvater fragen, welches seiner Kinder ihm am liebsten ist?
Wenn von Anton Bruckners Sinfonie die Rede ist, wird immer wieder das Bild von den „Kathedralen der Klänge“ gezeichnet. Es sei religiöse, überhöhte Musik, aufgebaut wie mächtige Kirchenschiffe. Wie stehen Sie zu diesen Bildern und Assoziationen?
JH: Ich brauche sie nicht, aber ich verstehe sie. Für mich ist Bruckners Musik abstrakte Musik von höchster Inspiration, außergewöhnlichem Intellekt und sehr persönlicher Emotionalität. Und über allem steht sein Mut, er selbst zu sein – originell, seinem Konzept, seinen Gedanken und seinem Herzen treu. Geistlich ist diese Musik zweifellos. Religiös war er – es wäre seltsam, wenn seine Musik diese Religiosität nicht widerspiegelte. Ich würde den Zuhörern jedoch kein „religiöses Erwartungsbild“ vorab ans Herz legen. Wenn diese Musik in ihnen eine Beziehung zum Transzendenten weckt, dann haben wir als Interpreten gut gearbeitet.
Ganz kurz gesagt: Wo ist ein Dirigent (und wo ist ein Orchester) mehr gefordert: Bei Mahlers Zerrissenheit oder bei Bruckners Kompaktheit?
JH: Bei Mahler ist der konkrete Beitrag des Dirigenten stärker gefordert. Der Dirigent muss hier aktiver sein, agieren, anregen. Bei Bruckner hingegen ist es wichtig, im Orchester das eigene Empfinden, Zuhören, Erleben, die Ausrichtung zu inspirieren und dann das Orchester die Intentionen des Komponisten bis zu einem gewissen Grad selbstständig und organisch umsetzen zu lassen – und lediglich zu überwachen. Das jetzt natürlich sehr stark vereinfacht ausgedrückt.
Mahler und Bruckner, die beiden Großsinfoniker der späten Romantik: Würde man das Publikum fragen, gäbe es sicher bei jedem und jeder eine klare Haltung, ein Bekenntnis entweder zur Mahler-Partei oder zur Bruckner-Fraktion (vergleichbar mit: Beatles oder Stones?). Die Frage ist natürlich gemein an dieser Stelle, aber: Mahler oder Bruckner, Herr Hrůša?
JH: Ganz allgemein gesagt, ohne Kontexte und ohne weitere Überlegungen: Mahler. Er ist ein ganzer Kosmos. Bruckner hingegen ist eine reine Seele, ein Ausschnitt dieses Kosmos (alles metaphorisch gemeint!), der unersetzlich, unnachahmlich und unglaublich tief und kostbar ist. Als Nahrung für die Seele eines empfindsamen Menschen ist Bruckner das Höchste. Als Porträt der „Realität“ (ich meine eher die spirituelle Realität, die Bedingungen der menschlichen Existenz in all ihrer Vielfalt): Da bleibt Mahler einer der größten Genies der Musik aller Zeiten.
[Die Fragen stellte der Musikjournalist Stefan Schickhaus]
Hingehört - nach Jakub Hrůša
In Bruckners Vierter Symphonie wirkt auf mich – wohl gerade deshalb, weil es sich um den Abschluss, die „Krönung“ seiner monumentalen und doch so menschlichen Architektur handelt – immer am stärksten das Ende des Werks, die Coda, die etwa drei Minuten vor Schluss beginnt. Bruckner war ein Meister von Steigerungen wie dieser. Vor dem Hintergrund eines über lange Zeit in erstaunlicher Spannung gehaltenen Ostinatos (eines ständig wiederholten Motivs, das uns wie ein Faden durch die verschiedensten Perspektiven des musikalischen Raums führt) ereignet sich der Aufstieg zu einem der schönsten Höhepunkte der gesamten symphonischen Literatur. Diese Musik erhebt den Menschen tatsächlich. Wohin? – das kann jeder für sich selbst sagen. Für Bruckner gewiss zu Gott, in die Nähe seiner Erhabenheit und Unergründlichkeit. Für den Dirigenten und das Orchester eine sehr anspruchsvolle Aufgabe – sich nach dem gesamten Weg durch die einstündige Symphonie noch ein letztes Mal völlig zu beruhigen und aus der gewonnenen Ruhe den Ausdruck sowohl zu Glanz als auch zu Demut zu steigern, sowohl zu lautem Klang als auch zu erhabener Weichheit, sowohl zur Erhebung in göttliche Höhen als auch zum Versinken ins eigene Innere.