bamberger symphoniker

resonating worldwide

Ein Gespräch mit Chefdirigent Jakub Hrůša

 

Das Motto der Saison 2019 / 20 heißt »Erinnerung«. Dieser Begriff wird gern mit Nostalgie und Sentimentalität in Zusammenhang gebracht. Was denken Sie darüber?

Die drei Begriffe Erinnerung, Nostalgie und Sentimentalität hängen für mich auf bestimmte Weise zusammen. Man projiziert seine gegenwärtigen Empfindungen in den Prozess des Erinnerns hinein. Darum kann ich meinen Erinnerungen nicht immer trauen. Sie sind nicht objektiv und immer mit Emotionen aufgeladen, was für mich ein Teil der Nostalgie wäre. Wobei Nostalgie immer auch einen gewissen Verlust dabei hat – eine Tragik, die unumkehrbar ist. Erinnerungen sind auf natürliche Weise immer ein bisschen mit Nostalgie gefüllt. Wenn man von all dem überwältigt wird, dann ist die Sentimentalität nicht mehr weit. Das ist ja an sich nichts Schlechtes, aber man darf sich nicht ständig darin einhüllen. Ich bemühe mich immer, die reine und im Grunde gesunde Emotion vor einer Übertreibung bis ins Unwürdige hinein zu bewahren. Man kann mit einem gesunden Abstand zur Vergangenheit stehen und den Entschluss fassen, im Hier und Jetzt zu leben. Diese Unterscheidung ist sicher wichtig, denn sonst wird Sentimentalität etwas Gefährlichem.

Schöpfen Sie aus Erinnerungen die Kraft für Neues?

Die Möglichkeit, aus dem Vergangenen zu lernen, ist immer da. Manchmal braucht man, bis man realisiert, welche Qualitäten man früher hatte. Das Entscheidende ist aber, was wir heute daraus machen. Ich denke, dass sich die Dinge um uns im Allgemeinen gut entwickeln und wir nicht auf einen Abgrund zusteuern. Ich bin aber weit davon entfernt zu glauben, dass heute alles besser wäre als früher. Es ist sehr komplex, schon allein deshalb muss man in die Vergangenheit zurückblicken – Kunst ist dafür ein wunderbarer Weg. Gute Kunst greift immer den Moment ihrer Entstehung auf und tragt die eigene Verwandlung in etwas Zukünftiges schon in sich. Auf diese Weise ist Kunst ein sehr genauer, ungetrübter Blick in die Vergangenheit. Eine Beethoven-Aufnahme aus den 1950er-Jahren erzählt uns besonders etwas über die 1950er-Jahre, eher als über die Zeit des Komponisten – am Beispiel von Beethoven. Damit erschaffen wir Dokumente über uns selbst in dem Moment, an dem wir etwas festgehalten haben.

Ist es zu früh, um Sie nach Ihren Erinnerungen an die ersten drei Jahren in Bamberg zu fragen?

Ich verstehe natürlich, dass diese Frage von Interesse ist. Aber für mich selbst ist es nicht so bedeutsam, die ersten drei Jahre in Bamberg in einer Art Zwischenbilanz zu betrachten. Womöglich ist das für unser Publikum sogar einfacher als für mich selbst! Stellen wir uns einmal vor, jemand wurde Sie fragen, die letzten drei Jahre ihrer Liebesbeziehung zusammenzufassen und zu bewerten. Man wurde doch kaum auf eine Reihe von Einzelereignissen zeigen, die besonders schon oder weniger schon waren – man wurde doch eher das große Ganze beschreiben. Ich habe hier in Bamberg das gute Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Wir haben die sogenannten Flitterwochen hinter uns und ich spüre jetzt zu allen Musikerinnen und Musikern eine ganz lebendige Beziehung, die sich nicht durch Routine ermüdet hat. Ich kann sagen, dass die Dinge gut sind, wie sie gerade sind. Und das mochte ich vertiefen, was ein wunderschöner Prozess ist.

Das Alter von Kunstwerken ist in manchen Sparten sehr wichtig. In der Musik scheint das eine weniger wichtige Frage. Wie sehen Sie das?

Wenn die Musiktradition in gewisser Weise ungebrochen bis in die Gegenwart reicht, dann ist es wahrscheinlich wirklich nicht wichtig, wann ein Werk entstanden ist. Ich denke, wenn man sich einmal erfolgreich in der Geschichte orientiert hat, ist es wohl selbstverständlicher, ein Werk aus seiner Zeit heraus zu verstehen. Generell ist der Begriff des ≫Klassikers≪ doch ein wenig fragwürdig. Und doch, es gibt etwas sehr Überzeugendes in der Musik von, zum Beispiel, Mozart und Beethoven. Die Klarheit, die Verständlichkeit und Struktur – und alles ist gleichzeitig so reichhaltig und intelligent. Es ist vielleicht wirklich ein ≫goldenes Zeitalter≪, von etwas 1750 bis, sagen wir, 1900. Da entstand eine Musik, auf die sich alle verständigen können und die alles zu überdauern scheint. Es ist wirklich schwer zu begreifen, warum es genau diese Epoche ist und keine andere – aber in der symphonischen Musik ist es so. Was immer wichtig ist, ist der Kontext. Mozart wäre ohne Haydn ein anderer Komponist gewesen, Beethoven ohne Mozart auch. Diese Verbindungen zwischen bestimmten Komponisten sind meistens viel wichtiger als die politischen Verhältnisse, in denen sie gelebt haben.

Was bedeuten Partituren für einen Dirigenten?

Zum einen gibt es einen praktischen Nutzen. Man hat seine eigene Druckausgabe, die einem beim Einstudieren hilft. Ich notiere dort technische Aspekte wie Schlagtechnik, Strukturen und wie ich manche Stellen einteile. Es ist wichtig, für alle Werke, die einem etwas bedeuten, eine eigene Partitur mit eigenen Eintragungen zu haben. Zum anderen hat eine druckfrische und unbeschriebene Partitur auch etwas sehr Befreiendes an sich und regt dazu an, sich Vieles neu zu überlegen. Es wäre geradezu ideal, während der Vorbereitung und bei den Proben die eigene und eine ganz neue Partitur nebeneinander legen zu können. Angenommen, Sie kennen ein Werk sehr gut und studieren es nach einer Zeit mit einem Orchester neu ein.

Möchten Sie da wieder frisch von vorne anfangen?

Den Wunsch haben sicher viele. Aber es wäre wohl eine Illusion zu glauben, dass man seine eigenen Erfahrungen und Ideen dabei völlig vergessen kann. Ich habe einmal das Requiem von Dvořak einstudiert und davor intensiv mit meiner Partitur gearbeitet. Diese Partitur ging irgendwo in der Pariser U-Bahn kurz vor den Proben verloren oder wurde gestohlen, ich war sehr gestresst. Ich kannte das Werk in- und auswendig, natürlich hatte ich es dirigieren können. Aber alle meine Überlegungen zur Interpretation nicht mehr zu haben, war ein großes Problem. Ich besorgte mir schnell eine neue Partitur und arbeitete so rasch wie möglich alles aus dem Gedächtnis wieder ein. Und ich war überrascht, wieviel ich abgespeichert hatte. Obwohl ich mir dachte, dass es eigentlich eine gute Gelegenheit wäre, manches zu überdenken, übernahm mein Kopf die Regie und ich konnte alles wieder zufriedenstellend herstellen. Ein anderes Mal hatte ich meine eigene Partitur einfach nicht dabei und kaufte rasch eine neue, um mit ihr zu arbeiten. Als ich dann viel später meine eigene Partitur wieder in der Hand hatte und danebenlegte, war ich überrascht, wie ähnlich ich die beiden beschrieben hatte. Es scheint so, als ob man bestimmte Dinge immer auf die gleiche Weise tut, so wie sich die Persönlichkeit von alleine immer einbringt. Die Interpretation ist ja auch ein sehr persönlicher Vorgang. Ich habe nie verstanden, warum mich Leute nach meinem persönlichen Zugang zu einem Werk fragen. Genau darüber denke ich nicht nach. Ich will immer dem Stück und dem Komponisten so nahe wie möglich kommen, das steht an erster Stelle. Meine Persönlichkeit kommt ohne mein Zutun hinzu.

Wie verwenden Sie Ihre Partituren heute im Vergleich zu früher?

Die eigenen Eintragungen beinhalten auch immer ein bisschen Nostalgie. Ich kann dann sehen, wie ich vor 10 Jahren über ein bestimmtes Stück dachte und muss manchmal schmunzeln. Dinge wie zum Beispiel die Struktur oder die grundsätzliche Idee hinter dem Stück bleiben gleich. Dann gibt es wieder Dinge, die sich von Orchester zu Orchester andern können. Ob ich etwas auf ganze oder halbe Takte dirigiere, zum Beispiel. Und veränderlich sind Dinge wie die Tempoangaben, da nimmt man es auch gern einmal ein wenig anders.

Löschen Sie manchmal auch etwas aus Ihren Partituren?

Das Radieren ist langwierig und ermüdend. Ich bin kein Asthet, meine Partituren müssen wahrlich keinen Schönheitspreis gewinnen. Aber eine bestimmte Übersichtlichkeit über meine Notizen mochte ich schon haben. Ich habe einmal eine Mahler-Partitur von Sir Georg Solti gesehen, die war über und über vollgeschrieben. Aus so etwas konnte ich nicht dirigieren. Wie gesagt, mein Ideal wäre eine Partitur zum ständigen Fortschreiben und bei jeder Einstudierung eine ganz druckfrische, neue Partitur.

Und dann kommt das Konzert …

Bei der Aufführung selbst muss man ganz nahe an der unbeschriebenen Partitur sein! Ich kann unmöglich an meine eigenen Partitureinträge denken, während wir ein Konzert geben. Das Spielen der Musik an sich steht in einem gewissen Widerspruch zu den gedruckten Noten, wir wollen ja etwas Lebendiges erschaffen! Ich nehme es immer als Kompliment, wenn mir Orchestermusiker nach dem Konzert sagen, dass nach einer guten Probenarbeit unser gemeinsames Musizieren auf einem festen Grund steht, aber bei jeder Aufführung auch etwas spontan und unerwartet geklungen hat. Schon allein deshalb sind Aufnahmen für eine CD und Aufführungen vor Publikum in keiner Weise vergleichbar.

Das Gedruckte hat für Sie also nach wie vor einen hohen Wert?

Ich habe immer gern gedruckte Bücher bei mir und lese viel lieber in einem Buch als auf einem elektronischen Gerät. Es ist paradox: Die unüberschaubare Auswahl macht uns langsamer, habe ich den Eindruck. Wir können online so viel mehr Informationen finden als in einem einzelnen Buch, aber der Computer hindert mich auf eigenartige Weise daran, bei einer Sache zu bleiben. Mit einem Buch in der Hand ist das anders, darauf lasse ich mich ganz ein.

Sie haben die 8. Symphonie von Antonín Dvořák als Ihr Lieblingsstück bezeichnet …

Ja, ich habe zu diesem Werk einen ganz besonderen Bezug. Für mich spiegelt die Symphonie in ihrer Anlage und ihrer Stimmung ganz genau Dvořáks Natur. Die Vorgänger-Symphonien sind eher Versuche, sich an der Tradition zu messen – allen voran an Brahms. Dieses Verhältnis von Brahms zu Dvořák ist wirklich ganz besonders, ich habe es in einem Interview einmal locker mit Bach und Handel verglichen. Brahms komponierte, indem er Vorbilder studierte und sie verinnerlichte. Für ihn war wichtig zu wissen, wie es die alten Meister taten und dachte abstrakter, kopflastiger. Die Klarheit und strukturelle Genialität von Bach haben ihn sehr fasziniert, er definierte sich mehr über die Tradition als über die Gegenwart. Dvořák war da anders, er reagierte meistens sehr spontan auf seine Umgebung und schöpfte weniger aus der Vergangenheit. Das hört man in dieser 8. Symphonie besonders schon heraus.

Ihre erste Partitur war die 8. Symphonie von Antonín Dvořák: Haben Sie beim Aufschlagen gleich alles verstanden?

Nein, natürlich gar nicht! Ich konnte rasch die vertrauten Themen wiedererkennen, einige Harmonien und auch dynamische Angaben. Ich hatte sofort das starke Gefühl, dass genau das meine Welt ist. Gleichzeitig war ich auch überwältigt von der Komplexität und dachte: Das ist es wert, ein ganzes Leben lang damit zu verbringen. Ein bisschen so, als wenn man den Nachthimmel betrachtet. Man ist fasziniert von der Unendlichkeit, ohne sie jemals wirklich ganz erfassen und verstehen zu können.

Und wie geht es Ihnen heute damit?

Partituren zu studieren ist einfacher für mich geworden. Ich habe mehr Routine bekommen und kombiniere das Lesen mit dem Hören von ein paar Aufnahmen. Die Achte von Dvořák habe ich auf diese Weise jahrelang studiert, dabei wurde mir nicht eine Sekunde langweilig. Ganz grundsätzlich finde ich Partituren immer sehr inspirierend. Alleine, wenn man eine handschriftlich einfach nur aufmerksam kopiert, ohne irgendetwas zu analysieren – da lernt man unglaublich viel!

Ist man als Musiker jemals »fertig« mit einem Stück?

Nein, ich denke nicht. Man kann sicher das Gefühl haben, dass es Zeit für eine Pause ist. Man kann so etwas wie Müdigkeit oder auch Zufriedenheit fühlen und sich deshalb etwas Neuem zuwenden. Das Weglegen von etwas schafft ja auch immer neue Freiraume. Sobald man als Musiker merkt, dass das Interesse schwindet oder sich ein Zustand von unkritischer Saturiertheit einstellt, sollte man meiner Meinung nach sofort aufhören, dieses Werk aufzuführen und lieber etwas anderes machen. Natürlich raufe ich mir nicht jedes Mal die Haare, wenn ich zum Beispiel die Achte von Dvořák dirigiere – ich kenne das Stück, aber der Probenprozess mit dem Orchester davor ist ein wichtiger Teil. Wir wollen bei jeder Aufführung etwas Neues spuren.

Wie bleibt man mit einem Werk in gutem Kontakt?

Man kann während der Vorbereitung das selbst Spielen durch nichts ersetzen, auch nicht durch ein noch so intensives Studium einer Partitur am Schreibtisch. Genauso wenig kann man mit einem Finger auf einer Landkarte eine richtige Reise machen. In der Orchesterwelt bin ich als Dirigent in einer Situation, in der ich immer ≫spielen lasse≪. Da bin ich zwar körperlich mit ganzem Einsatz dabei, aber es nicht das gleiche wie spielen. Darum bemühe ich mich, so viel Zeit als möglich am Klavier zu verbringen. Dort kann ich das ganze Orchester zwar nie ersetzen, aber ich kann Harmonien, Strukturen, Spannungen, Phrasierungen und vieles mehr erlebbar machen.

Es gibt also ein aktives und passives Einstudieren?

Ganz bestimmt, und die aktive Haltung ziehe ich immer vor. Das ist so wie bei der Erinnerung, über die wir eingangs sprachen. Eine aktive Erinnerung ist immer besser als eine passive, denn dann schwelgt man nicht nur darin. Man gibt ihr eine greifbare Form, aus der etwas Neues entstehen kann.

Das Gespräch mit Jakub Hrůša führte Alexander Moore.