»Eine alte Liebe, immer wieder neu«
Wir schreiben den 1. Oktober 1965, die Bamberger Symphoniker sind auf Gastspiel in der Bayreuther Stadthalle. Am Pult steht Hiroyuki Iwaki, einer der ersten in Europa regelmäßig auftretenden asiatischen Dirigenten, der 1977 als erster Japaner die Wiener Philharmoniker leiten sollte. Auf dem Programm standen ein tausendfach gespielter Orchesterfavorit, Bedřich Smetanas Ouvertüre zur »Verkauften Braut« und Tschaikowskys fünfte Symphonie. Und auch das Mittelstück des auf dem Papier unaufregenden Abends war bestens bekannt: Robert Schumanns Klavierkonzert a-Moll.
Doch der Solist ist neu: Christoph Eschenbach, ein junger, eben 25 Jahre alter, vielversprechender Pianist, der gerade den Concours Clara Haskil in Luzern gewonnen hatte. In Bayreuth spielt er sich quasi warm für seine steile internationale Karriere, die 1966 mit Auftritten in London und 1969 in den USA zu immer neuen Höhenflügen ansetzt. Und auch bei dem Orchester hinterlässt der Debütant bleibende Eindrücke.
Noch neunmal ist er nach seinem »unter einem günstigen Stern stehenden Debüt « mit den Symphonikern als Solist aufgetreten, unter Rafael Frühbeck de Burgos und György Lehel mit Beethovens drittem und unter Eliahu Inbal mit dem zweiten Klavierkonzert, unter Michael Gielen mit Hans Werner Henzes Klavierkonzert. Unter Moshe Atzmon gab es dann im Würzburger Kaisersaal beim Mozartfest einen kleinen Mozart-Klavierkonzert-Zyklus: 1976 die Nummer 19, 1979 die Nummer 27. Dazwischen aber, 1977, da hießen Dirigent wie Solist Christoph Eschenbach. Es musizierte zum 23. Klavierkonzert auch noch die Symphonien Nr. 34 und 35 (»Haffner«). »Es war ein ganz natürlicher Übergang«, erinnert sich Eschenbach. »Und das Orchester ist meinen Begehrlichkeiten stets wohlwollend entgegengekommen.« Schon 1972 hatte er als Dirigent in Hamburg debütiert. Seither hat er sich immer stärker auf diese Tätigkeit konzentriert. Da gab es zwar viele feste Posten: So war Eschenbach von 1978 bis 1982 Generalmusikdirektor der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz in Ludwigshafen und von 1982 bis 1986 Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters Zürich. 1988 ging er zum Houston Symphony Orches tra, wo er elf Jahre blieb und ebenfalls Ehrendirigent ist. Von 1995 bis 2003 war er Direktor des Ravinia Festivals, der Sommerresidenz des Chicago Symphony Orchestra. Von 1998 bis 2004 hatte er die Leitung des NDR Sinfonieorchesters inne; von 1999 bis 2002 war er zudem Künstlerischer Leiter des Schleswig-Holstein Musik Festivals. Anschließend übernahm er 2003 bis 2008 die Leitung des Philadelphia Orchestra und war zeitgleich von 2000 bis 2010 in gleicher Position beim Orchestre de Paris tätig. Seit 2010 ist er Music Director des John F. Kennedy Center for the Performing Arts und des National Symphony Orchestra in Washington, D.C.
Viel Oper hat Christoph Eschenbach auch dirigiert, aber immer wieder kam er nach Bamberg zurück oder ging mit den Bambergern auf Tournee. »Ich wollte Repertoire lernen, Stücke verfestigen oder sie einfach mit diesen herrlichen Musikern spielen, irgendetwas ergab sich immer«, so pragmatisch erklärt er diese offensichtliche Liebesbeziehung. Wie Herbert Blomstedt ist auch Christoph Eschenbach kein Dirigent der autoritären Geste, hier kann er sich auch leise durchsetzen und ans Ziel kommen. Und so hat man russische und deutschspätromantische Phasen verbracht, immer wieder Mozart, Bruckner und Mahler aufgeführt. »Die Bamberger können den großen, satten, stets warmen Klang, aber sie haben auch ein freundliches, spritziges, schön deutliches Wiener Klassikverständnis.« Gern denkt er an Schumann- und Brahms-Zyklen zurück, auch an das immer mal, meist bei Mozart wieder aufgenommene Klavierspiel.
Man war gemeinsam in Österreich, Italien und den Benelux-Ländern, mit Gidon Kremer im Baltikum, war auf den Kanaren, im Oman, in den USA und gleich weiter in Japan, in Südamerika. Und immer wieder in Deutschland unterwegs. Ist da etwas auf der Strecke geblieben, Herr Ehrendirigent? »Wir haben viel Schönes gespielt und erlebt. Wenn es nicht so viele Reisen gewesen wären, dann hätten wir sicher auch
mehr Moderne und Zeitgenössisches zusammen erarbeitet. Ich erinnere mich an Witold Lutosławski und Dmitri Schostakowitsch, an Peter Ruzicka und zuletzt Avner Dorman mit Martin Grubinger. Denn das war und ist mir wichtig. Anderseits mag ich auch den breiten, feinen Klang dieses Orchesters im herkömmlichen Repertoire.«
52 Jahre nach seinem Debüt als Pianist konzertierte der an diesem Tag seinen 77. Geburtstag feiernde Christoph Eschenbach am 20. Februar 2017 ebenfalls mit den Bamberger Symphonikern. Aber diesmal, wie schon sehr lange, als Dirigent. Man spielt an diesem Tag am McCallum Theatre in der gern als reiche Rentnerstadt belächelten kalifornischen Wüstensiedlung Palm Springs, auf halbem Weg zwischen Los Angeles und Las Vegas. Es ist die letzte Station einer fast dreiwöchigen USA-Tournee, die durch vier Bundesstaaten und neun Orte geführt hat. Mit Höhepunkten in der New Yorker Carnegie Hall, wo man erstmals seit 1983 wieder aufgetreten ist und mit lang anhaltendem Applaus empfangen wurde, in Miami und Los Angeles.
Man hat einen Blizzard hinter sich und Regenstürme in der gar nicht sonnigen Westküste. Ein letztes Mal gibt es eines der beiden Tour-Programme, Mozarts »Don Giovanni«-Ouvertüre, Mendelssohn Bartholdys Violinkonzert mit dem taiwanesisch-australischen Geiger Ray Chen und Beethovens dritte Symphonie. Auch die übliche Tournee-Zugabe, ebenfalls eine von zwei, ist Beethoven, eine Ouvertüre, die zum Ballett »Die Geschöpfe des Prometheus«. Doch damit ist diesmal der Abend noch nicht zu Ende. Dem Jubilar zu Ehren folgt noch ein Ständchen, das »Eroica«-Phrasen mit »Happy Birthday« verblendet. Solotrompeter Lutz Randow hat es arrangiert. Dann fährt Ray Chen die Geburtstagstorte herein. Und ein sichtbar gerührter Christoph Eschenbach, dem die Tour ausnehmend viel Spaß gemacht hat, ist ganz ehrlich: »Sie haben wirklich jeden Abend von Neuem die Werke erfunden. Dadurch wird es immer interessant, immer aufregend, und ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar.«
Das sind keine höflichen Worte. Christoph Eschenbach, kein Phrasendrescher, da schweigt er lieber, meint es wirklich so. »Ich habe mich bei diesem Orchester sofort wohl gefühlt, ich weiß das heute noch, es herrschte hier immer eine freundliche Atmosphäre «, erzählt er später von seinem ersten Konzert. »Die Musiker – und ich habe ja schon einige Generationen in inzwischen mehr als 165 Konzerten erlebt – sind immer offen und neugierig, dieser gute Geist, den ich von Anfang an hier spürte, er überträgt sich auf wunderbare Weise weiter. Dieses Orchester ist ein musikantisches, eines, das auch etwas riskiert, mit dem Musikmachen nie zur Routine verkommt. Wir haben uns immer wieder aufs Neue befruchtet, haben Dinge ausprobiert, sind zu liebgewordenen Stücken zurückgekehrt. Es ist immer wieder schön, nach Bamberg zurückzukommen und von hier aus zu mehr oder weniger langen Abstechern aufzubrechen. Indem wir auch sehr oft in anderen, bisweilen neuen Hallen spielen, wird es uns nie langweilig, wir holen uns gern aus der Komfortzone.«
Wie auf dem jüngsten USA-Trip zu erleben. Da geht es von der Ost- an die Süd- und Westküste, sechs Flüge, noch mehr Busfahrten. Alles wie immer, die 120-Personen-Truppe ist ein eingespielter Reisekader. Die Bamberger haben ja seit der vergangenen Spielzeit ihren erst fünften Chefdirigenten, den 35-jährigen Tschechen Jakub Hrůša, der gleichwohl schon in der Musikwelt für Furore gesorgt hat. In seiner ersten Saison hat er freilich nur sechs Wochen für das Orchester übrig. Das wird sich ändern, und diese Tournee war längst vereinbart: mit Christoph Eschenbach; seit 2016 ist der neben Herbert Blomstedt der zweite Ehrendirigent. Aus gutem Grund.
Beim Aufwärmkonzert in New Brunswick, New Jersey, geht Mozarts vollsatte, aber durchstrukturierte »Don Giovanni«-Ouvertüre voraus, und als Post-Pausen-Hauptmahlzeit wird Gustav Mahlers fünfte Symphonie serviert. Wie auf einem altmodischen, familienvererbten, schön mattpolierten Silbertablett. Da geht das Publikum richtig mit, denn Eschenbach lässt die böhmischen Quinten schwingen, die Hörner jauchzen, die Klarinetten trillern. Trotz der etwas kompakten Akustik in dem ehemaligen Filmtheater klingt das Stück warm, wach, berührend. Die Bamberger können das, es gehört ihnen als DNA, nicht nur weil sie kürzlich unter ihrem alten Chef Jonathan Nott einen glänzenden Mahler-Zyklus auf CD abgeschlossen haben.
24 Stunden später in New York, großer Society-Bahnhof. An der 57th Street fotografiert man sich vor dem Plakat der Bamberger, das goldweißrote Halbrund der 2.800 Carnegie-Hall-Sitze ist fast gefüllt. Unter Eugen Jochum spielte man hier zuletzt Bruckners Achte, danach war man immer in der Avery Fisher, jetzt Geffen Hall im Lincoln Center aufgetreten. »Es ist wie heimkommen«, sagt ein Musiker, schon nach der Probe sind alle glücklich. Es klingt so normal, klar, obwohl man die U-Bahn und die Feuerwehr hört, man wie in einer Kurmuschel sitzt, mit simplen Behelfspodesten. Hier ist eben ganz viel Aura. Und heute Abend ein wirklich aufmerksames Publikum. Der Mahler türmt sich zum konzentriert zerrissen Seelengemälde, nie larmoyant, straff geführt auch im gern zerfließenden Adagietto.
Man spürt die gelassene Tourneeroutine, aber auch die subtile Aufmerksamkeit, das synergetische Miteinander dieses Klangkörpers. Eine ganz und gar unaufgeregte, nie extreme Interpretation. Eschenbach ist präsent, aber auch generös; die Musiker danken es ihm mit menschlichem Tonfall. Und spielen zwei Tage später mit der gleichen Hingabe im Peabody Auditorium in Daytona Beach, Florida. Die Akustik in der 2.500-Plätze-Halle ist direkt und ehrlich. Genau richtig für die erstmals auf der Tour gespielte »Eroica«, die Christoph Eschenbach mit einer guten Mischung aus Pathos und Schlankheit nimmt, eine glänzende »Eroica« in der vollen Aureole des alten Europa. Da ist räumliche Tiefe im Trauermarsch, ein dunkles Verharren, aber auch viel Dur-Licht, sehnige Gespanntheit, instrumentales Muskelspiel in den Außensätzen. Das kommt gut an, bei der zugegebenen »Prometheus«-Ouvertüre wird sogar gelacht.
Bemerkenswert, wie wach und ausgeglichen die Bamberger Musiker sind, Reisen ist für sie keine Affäre. Man gibt jeden Abend konstant sein Bestes. »Breathtaking and brilliant«, schwärmt später die örtliche Kritik in Miami über die Bamberger, lobt besonders die enge, jederzeit spürbare Verbindung von Eschenbach und dem Orchester.
Jetzt blickt Christoph Eschenbach erst einmal auf das nächste Konzert mit »seinen« Bambergern, am 16. Dezember 2017 in Bamberg. Auf dem Programm stehen zwei Mendelssohn-Symphonien, die Nr. 4 und 5, sowie das erste Cellokonzert von Camille Saint-Saëns. Solist ist der junge Spanier Pablo Ferrández. Auch das ein Kontinuum in dieser langjährigen Orchesterehe: die Auffrischung durch Nachwuchsinstrumentalisten.
Manuel Brug